Café Wahrheit nimmt Gestalt an

Provisorische Café-Eröffnung trotz Sanierungsbedarf - und so schnell es trotz der C-Krise geht.

Heutzutage wollen, wie der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert, alle singulär, also einzigartig sein. Anpasst sein ist out, Crazyness in. Angesichts dieser treffsicheren Analyse fühl es sich komisch an, zu behaupten, mit der »Insel« würde es etwas Besonderes, vielleicht sogar Einzigartiges entstehen. Erstens: Ist das so? Zweitens: Wieso will man das? Drittens: In welcher Gesellschaft befindet man sich, wenn man das von den eigenen Plänen annimmt?

Reckwitz diskreditiert diesen Wunsch von Menschen und Menschengruppen sich aus der Einheits-Masse herauszuheben allerdings nicht. Er stellt nur fest. Und er warnt, dass die Suche nach dem Besonderen natürlich auch dazu führt, dass Ideen, Projekte und Eigenheiten ihren Zenit schnell erklimmen und dann auch rasch wieder veralten. Und man kann sich in seinem Singularitätsanspruch täuschen und äußerst konventionell sein (und umgekehrt).

Wir wissen natürlich, dass wir mit der »Insel« letztlich auch nur Bekanntes, Vertrautes, Traditionelles mischen. Wir behaupten aber keck, dass die »Insel« ein Projekt mit »Leuchtturmcharakter« sein wird - durch die dialektische Mischung von Komponenten, die langläufig so nicht zusammengehören. Eine wichtige Zutat in diesem (vermeintlich?) neuen Mix ist das »Insel«-Café, dass in provisorischer Form am 28. Mai seine Türen öffnen wird. Es wird keine Heizung geben, der Fußboden und die Fenster sind noch schäbig. Aber die Wände sind neu, z.T. persisch-rot gestrichen, Wandlampen geben indirektes Licht, antike Möbel kontrastieren die Sanierungsbedürftigkeit, die italienische Kaffeemaschine von 1989 und die grundsanierte Kühltheke von 1965 werden in Betrieb genommen. 

Damit bekommt das Ferienlager nicht nur etwas Neues, sondern es kehrt auch etwas Altes in veränderter Form zurück. Schon zu DDR-Zeiten war das damalige Betriebsferienheim auch ein Anziehungspunkt für die anwohnenden Schlowenier und Schlowenierinnen. Legendär beispielsweise die 6-Uhr-Kneipe. Schlag 18.00h wurden hier Bier und Korn auch an die Dorfjugend ausgeschenkt und man musste sich beeilen, seinen Flüssigkeitsbedarf zu decken. Nach einer Stunde gab es noch eine letzte Runde und dann war unwiderruflich Feierabend. Wir wollen im »Insel«-Café eher das langsame Trinken und genussvolle Essen und orientieren uns eher an italienischer Lebensart als an deutscher. 

Was aber wiederkehrt, ist die Öffnung unserer Gastronomie in die Gemeinde, die neben den Gastgruppen, eingeladen ist, Zeit bei und mit uns zu verbringen, zu schnacken, der Musik des Hauses zu lauschen. 

Ebenso wichtig ist uns natürlich, den Gastgruppen mit dem Café einen besonderen Flair und einen Treffpunkt während ihres Aufenthalts auf der »Insel« zu bieten. Stellt euch zum Beispiel, ihr könntet eure wohlverdiente Pause vom sozialpädagogischen Geschäft zeitunglesend bei einer Tasse echt guten Cappuccinos genießen! Oder Abends nach der Teamsitzung der Jugendverbandsfahrt noch ein Sternburg oder einen Aperol trinken!

Die »Insel« der Begegnung braucht einen Treffpunkt. Und wenn es nach uns geht, soll dieser Treffpunkt auch Unterschiedliches, Fremdes vereinen. Stadt und Land, alt und jung, sozialistische und konservative Gedanken. 

Jenseits aller Singularitäten sind wir doch alle Menschen, die dem Hedonismus frönen wollen und in der Lage sind, sich zu verständigen und gegenseitig zu akzeptieren. Und in diesem Gedanken des Kollektiven steckt vielleicht in diesem Fall die Singularität in Zeiten des Indiviualismus.

Stell dir vor, es gibt guten Kaffee (und mehr) und alle gehen hin!

Salute!

Nachtrag, 15. März 2020

Seit Freitag dem 13. hat sich die Stimmung auch hier im westlichen Mecklenburg dreht. Corona rückt näher. Inzwischen gibt es in LUP (Landkreis Ludwigslust-Parchim) den ersten Fall. Allgemein rechnen wir mit einer erheblich schlechteren Auslastung, als wir noch vor ein paar Tagen hoffen durften. Macht es da Sinn, die Eröffnung eines Cafés voranzutreiben? Wir meinen: Ja! Denn es ist zurzeit eh schwer etwas vorauszusagen und in Anbetracht dessen, kann man ja einfach programmatisch optimistisch bleiben. Wir bosseln und wienern weiter, zurzeit am alten Kühltresen Jena, Baujahr 1965 (siehe Fotos), und in den nächsten Tagen an den Arbeitsflächen drumherum, die unsere Kaffeemaschine Asso von Gaggia, Baujahr 1989 behergeben wird. Das bedeutet, dass wir Ressourcen vorhalten für post-coroniale Zeiten. Die kulminierte Zwangs-Einsamkeit wird eine neue Lust am Sozialleben mit sich bringen und wir werden da sein! Das erste hoffe ich, das zweite verspreche ich! ¡Hasta la victoria! 

Nachtrag, 29. März 2020

Steffen, der Gute, hat inzwischen mit dem Tresenbau begonnen und die italienische Kaffeemaschine hat provisorisch ihren Platz eingenommen. Besonders in der vorvorigen Woche haben wir auch schon einige Abende hier verbracht, gemessen, geplant und philosophiert. Da jetzt die Baumärkte ruhen, ruhen auch Steffens Tischlerarbeiten. Wir hoffen sie spätestens Ende April wieder aufnehmen zu können!

Nachtrag, 26. April 2020

Noch halten wir am Eröffnungstermin (28.5.) fest. Die einstweilige Fertigstellung des Cafés mit seinen Technischen Anlagen könnten auf jeden Fall termingerecht erfolgen. Jedenfalls ist der Tresenunterbau mit den Verblendungsplatten fertig. Auch die Be- und Entwässerung ist fertiggestellt. Heute will ich beginnen, den Kühltresen der Marke »Jena« zu schleifen und ihn bald spachteln und lackieren. Andererseits ist es dieser Tage immer unklar, ob man es wirklich eilig hat...

Nachtrag, 18. Mai

In 10 Tagen soll die Eröffnung stattfinden. Schien lange undenkbar. Plötzlich geht das wieder. Jetzt wird es zeitlich langsam echt knapp! Den Kühltresen habe ich erst geschliffen, dann mit Rostumwandler bestrichen, dann vorlackiert. Dann wieder geschliffen, weil mir die Oberfläche nicht gefiel. Wieder vorlackiert und ein besseres Ergebnis erzielt. Und dann habe ich den Fehler gemacht, nicht mehr ganz taufrischen Lack zu verwenden. Mit dem Ergebnis, dass die Oberfläche so porig wurde. Also wieder geschliffen. Auf der Sichtfläche am längsten. Ich habe so viel geschliffen mit unserem Deltaschleifer, bis er den Geist aufgab. Da musste ein neuer Deltaschleifer ran. Es war absolut gestohlene Zeit, weil es hier doch soviel wichtigere Dinge gibt, als einen alten Kühltresen zu schleifen. Aber mir hat es in den letzten Wochen einfach viel Spaß gemacht, zu schleifen und zu streichen und Musik zu hören. Am vergangegen Wochenende dann ein Schluss-Strich! Und die Zierkanten aus Alu und Chrom poliert. Jetzt ist das Ding endlich bereit, an seine Stelle im Tresen-Ensemble gerückt zu werden. Morgen gehen dann hoffentlich die Arbeiten an der Tresenplatte weiter. Und Mittwoch bekommt "Jena" dann eine neue Kühlanlage von Dirk Rogmann aus Schlowe. Aber das Waschbecken, das Regal, der Wiederzusammenbau und die Beleuchtung im Tresen, der Anschluss der Café-Maschine und des Geschirrspülers. Und der Strakstrom. Und die Gaststättenanmeldung... Wie soll das alles gehen, bis 28. Mai. Und wo bestelle ich Espresso-Bohnen? Mir schwirrt der Kopf. Aber das kratzt mich fast nicht die Bohne. Die Zeit wird das Café Wahrheit schon ans Licht bringen!

Nachtrag 29. August

Es hat sich noch hingezogen. Es ist irgendwie wie die permanente Evolution. Alles dreht, alles bewegt sich. Aber: Die Siebträgermaschine funktioniert endlich und macht wirklich traumhaften Espresso. Wir beziehen ihn übrigens bei der Kaffeerösterei Ridders in Berlin-Friedenau! In der mit neuem Verdampfer und Auffangsschale nachgerüsteten Kühltruhe stehen leckere Getränke, z.B. Fritz-Brausen und Proviant-Limonade. In den Regalen lagern alle möglichen Süßigkeiten und in der Eistruhe gibt es Nogger-Choc und andere Eisamstilklassiker. Die 250 Sommergäste haben das Café gut angenommen, das immer dann geöffnet hat, wenn es Bedarf gibt.