Iin der SVZ: I »Nach 50 Jahren zurück in Schlowe«

Patricia Gentet aus Frankreich war vor der Wende im Ferienlager hinter dem Eisernen Vorhang / 61-Jährige erkundet die Region erneut. Von Michael Beitien / Schlowe.

Patricia Gentet strahlt. Die 61-jährige Französin hat den Platz gefunden, auf dem sie vor 50 Jahren so schöne Kindheitstage verbracht hat: das frühere Ferienlager auf der Halbinsel in Schlowe im Sternberger Seenland.

Jens Mühe, der heute zusammen mit Sabine Reichhelm auf dem Gelände wohnt und es wiederbeleben will, zeigt der Französin das Areal. Sie erkennt kaum noch etwas wieder. Vor einem halben Jahrhundert standen nur ganz wenige Gebäude. Das Ferienlagerleben spielte sich in Zelten ab.

Ein paar Erinnerungen kommen dann doch im Haus mit den Sanitäreinrichtungen: Mehrere Waschbecken stehen nebeneinander in einer Reihe. Früher waren es noch mehr, sagt Patricia Gentet. Sie berichtet, wie ihr andere Mädchen gezeigt haben, wie man in einem Waschbecken die Haare wäscht.

Doch der Französin war ohnehin jeder Luxus fremd. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen, erzählt sie. In der Wohnung ihrer Eltern in Lyon gab es vor 50 Jahren kein Badezimmer. Man wusch sich in der Küche.

Ihr Vater war Anarchist und sympathisierte später mit der kommunistischen Partei, erzählt Patricia Gentet. Sie kam durch die von Kommunisten organisierten Reisen in die DDR. „Die Eltern mussten nicht kommunistisch sein, um ihr Kind in dem Jugendlager anmelden zu können. Der Zugang war politisch frei“, sagt die Seniorin.

Die Beziehungen nach Lyon bestanden mit der Stadt Leipzig, erfährt SVZ von Siegmar Kühn. Er hatte ab 1964 in Schlowe Ferienlager und Urlaubsdomizil für den Leipziger Bodenbearbeitungsgeräte-Betrieb aufgebaut und über Jahrzehnte geleitet. Mehrfach kamen junge Leute aus Lyon nach Leipzig, viele auch nach Schlowe.

Nachbarn in Lyon fragten seinerzeit ihre Eltern, ob sie nicht Angst hätten, ihre Tochter hinter den Eisernen Vorhang zu schicken, erzählt Patricia Gentet. Bedenken gab es in der Familie aber nicht. Französische Eltern bezahlten sehr wenig für die Jugendtage in der DDR, die über mehrere Wochen gingen: 300 Französische Franc. Das sind nach heutiger Umrechnung weniger als 50 Euro.

1969 kam Patricia Gentet das erste Mal und danach die zwei folgenden Jahre in den Osten Deutschlands. Drei Tage dauerte bei der ersten Anreise die Zugfahrt. Und war ein großes Abenteuer, wie die Französin erzählt. Die erste Woche verbrachten die Kinder in Leipzig, dann folgten drei Wochen in Schlowe. „Es war primitiv, aber wir waren glücklich“, erklärt sie. Deutsche und Franzosen schliefen in den gleichen Zelten. Jeden Morgen, viertel nach sieben, war Frühsport. Das ist Patricia Gentet ebenso in Erinnerung geblieben wie beispielsweise die abendliche Suppe mit einer knackigen Wurst, die sie aus Frankreich nicht kannte.

Dem Mädchen gefiel die deutsche Sprache, die sie fleißig übte. Später wurde sie Deutschlehrerin in Frankreich, lebte zeitweise im Westen der Bundesrepublik und hatte sich hier auch als Französischlehrerin beworben.

Mit einer ihrer Betreuerinnen in Schlowe hatte Patricia Gentet sich noch lange geschrieben. Man schickte sich gegenseitig Weihnachtspakete. Doch plötzlich hörte sie nichts mehr von ihrer Briefpartnerin aus Berlin und rätselte: „Habe ich zu viele Fragen gestellt?“

Auch als Jugendliche war sie noch mehrmals hinter dem Eisernen Vorhang. Zum einen mit ausschließlich französischen Gruppen, was ihr überhaupt nicht gefiel. Später noch einmal als 17-Jährige in der Region Leipzig. Damals halfen die Franzosen zwei Wochen bei der Gurkenernte und verbrachten dafür anschließend zwei Ferienwochen in Sachsen.

Heute leben Patricia und ihr Mann Pierre (63), ebenfalls Lehrer im Ruhestand, in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen in Frankreich. Lust für ihre derzeitige Tour von Südfrankreich aus in den Osten Deutschland hatten die beiden durch das Buch eines französischen Historikers bekommen, der sich auf Spurensuche in Fabrikruinen aus DDR-Zeiten begeben hatte.

An den Namen Schlowe konnte sich Patricia Gentet nicht mehr erinnern. Sie hatte aber eine Karte mit. Ihre Mutter hatte sie ihr vor 50 Jahren an die Adresse des Ferienlagers „Hans Francke“ in Borkow geschrieben. Mit Hilfe von Bürgern aus der Region wurde Patricia fündig. Am Sonntag will sie sich noch einmal mit ihrem ehemaligen Ferienlagerleiter Siegmar Kühn in Schlowe treffen. Er hatte auch in den vergangenen Jahren schon Besuch aus Frankreich aus den Ferienlagerzeiten, erzählt er.

Schweriner Volkszeitung, 28. September 2019