Prägnante Zeit: 9 Monate auf der »Insel«

Der Beginn neuer Jahre ist nicht nur die Zeit für gute Vorsätze, sondern auch die der Jahresrückblicke. Während es Menschen gibt, die häufig dasselbe erzählen, weil in ihrem Leben nicht viel Neues passiert, können wir für uns in Anspruch nehmen, eher mehr erlebt zu haben und zu erleben, als mensch sinnvoll in Worte fassen kann. Was ist signifikant genug für das vergangene Jahr, um in diesen Jahresrückblick Eingang zu finden? Ich lasse mich beim Schreiben treiben - und wir werden sehen, was dabei herauskommt.

Bewegend war zunächst sicher die Schlüsselübergabe am 31. Januar 2019. Ich erinnere mich gut an ein ausgeprägtes Überforderungsgefühl angesichts der Größe und Verkommenheit der Anlage, das uns in der Anfangszeit beschlich. Allein die unzähligen aus der Zeit gefallenen Sicherungskästen, aber auch die Unordnung und die Unmengen an Plunder und Reliquien in verschiedensten Schuppen und Räumen waren schon beeindruckend. Hinzu kamen die Düsternis und die Kälte der Wintermonate. Aber es war natürlich auch Abenteuerlust und Aufbruchsstimmung, die Sabine, mich und die ersten Expediteure bei unseren wiederholten Erkundungsgängen durch diesen lost place.bewegten.Wie erhebend, die ersten, gerade in Brandenburg erstandenen antiken Gartenmöbel im Wintergarten unterzustellen und ein bisschen Schönes hier hereinzubringen!

Richtig los ging es dann mit der Übernahme des Platzes durch den JKBBS e.V. am 1. April und mit unserem Workcamp vom 13. bis 24. April. Über 25 Menschen kamen für unterschiedliche Zeitspannen nach Schlowe um aufzuräumen und zu entrümpeln. Ungezählte Container verschiedenster Größen wurden mit allem möglichen Schrott befüllt. 50 Reifen entsorgt, muchtige Möbel, Schadstoffe, Elektrogeräte. Das ganze Vorhaben glich vielfach einem Tetris-Spiel, denn Dinge wurde von A nach B nach C geräumt und konnten dann da nicht bleiben. Wie oft wir versucht haben einen Überblick über die 34 Bungalows und ihren Zustand zu bekommen ist ungezählt. Listen wurden geschrieben und Zustände erhoben. Aber genau dadurch und durch die schönen Abende an Lagerfeuern wurde dieses Workcamp auch zu einem unvergesslichen Gemeinschaftserlebnis. Unvergesslich auch unsere Teilnahme am Schlower Osterfeuer. Den Dorfbewohner*innnen sei herzlicher Dank dafür, uns so offen und freudig begrüßt zu haben!

Der Kinderring Berlin war dann unser erster Gast mit seinem traditionellen Familienwochenende und es gab Teilnehmer*innen, die es für das beste Familienwochenende aller Zeiten hielten. Orte, die bisher nicht und nur begrenzt zugänglich waren, waren nunmehr öffentlich und so spielte sich das Leben vor allem auf der großen Terrasse des Finnhauses ab. Es lag vermutlich nicht nur nur am superschönen Wetter, dass die Atmosphäre sehr entspannt war. Unter noch sehr improvisierten Küchenbedingungen machten wir unsere ersten Vollverpflegungserfahrungen - wie gut, dass Sabinbe jahrelang als Ergotherapeutin in einem Kantinenprojekt gearbeitet hat.

Den Sommer über waren eigentlich immer kleinere oder größere Gruppen da. Unser Lernprozess dabei war, zu lernen mit Entgrenzung umzugehen. Provisorisch mitten auf dem Platz in einem der Bio-Bungalows untergebracht zu sein und zusätzlich auf der Terrasse und in der Küche zu leben, heißt auch wenig Privatsphäre zu genießen. Gerade die Küche wurde zum Transitraum zwischen Terrasse und Esssaal. Und es erwies sich als schwer steuerbar, wann man in Ruhe einen Espresso trinken kann und wann neue Anforderungen an einen herangetragen werden. Andererseits durchströmten uns meist intensive Glücksgefühle beim Blick von der Terrasse über die Erlen, die den Platz vom Kleinpritzer See trennen, das zukünftige Café und Kulturhaus und die Ruine, die bald unser Wohnhaus und Textilwerkstatt werden soll. Und es gab sehr schöne Begegnungen mit Gruppen und Einzelpersonen. 

Unausweichlich und spannend war besonders die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte und der Gegenwart in einem der neuen Bundesländer. Ich bin beeindruckt, wie viel Sozialist*innen es hier immer noch gibt! Und ich fühle die hellen und dunklen Seiten der DDR, die ich bisher immer aus der westberliner Diatanz betrachtet habe. Geborgenheit und Wegschauen, Materialknappheit und Materialhorten, Zweifeln und Glauben, das bleibende Gefühl der Fremdheit vieler »gelernter DDR-Bürger*innen« und das sich (natürlich) Eingerichtethaben in der BRD liegen nah beieinander. Und: Wir Städter haben keine Ahnung von der Diversität des Landlebens in den östlichen Bundesländern!

In diesem regionalen Kontext fanden erste eigene Veranstaltungen statt. Mit dem Lagefeuerliederfestival am 3. August wurde eine Tradition begründet. Beim ersten Mal kamen erstaunlich viele Menschen aus Schlowe und Umgebung. Bemerkenswert, denn viel Werbung hatten wir nicht gemacht. Sabine, Janna, Jilka und ich lernten das Mecklenburg-Lied und plattdeutsche Gesänge und steuerten unsererseits »Piraten« und zu vorgerückter Stunde »Der Traum ist aus« von Ton Steine Scherben bei.

Dann kam der Spätsommer und mit ihm die eigentliche Umzugsphase. Unser Haus in Spandau hatten wir noch vor dem Sommer an nette Menschen verkaufen können. Aber bislang waren nur ein paar für den Sommer unverzichtbare Dinge nach Schlowe verbracht. Ab dem 16. August sind wir daher unzählige Male zwischen Spandau und Schlowe gependelt. Bully mit Hänger, Pritschenwagen von Robben&Wientjes, großer LKW. Der komplette Hausstand von zwei Menschen mit Sammelwut musste verschoben werde. Nebenbei war der Auszug der jüngeren Tochter Jilka, die grad mit dem Abitur fertig war und auf den letzten Drücker den Füherschein geschafft hatte und ihr Abflug in einen Friedensdienst mit Aktion Sühnzeichen zu bewältigen! Am Ende ist alles termingerecht verlaufen und wir sind sehr stolz darauf, den Umzug zum größten Teil allein bewältigt zu haben. Zwischendurh liefen wir aber echt auf dem Zahnfleisch.

Grad in Schlowe angekommen, Anfang Oktober war das stand der Kinderring wieder vor der Tür. Es war recht kühl geworden und zum ersten Mal wurde der Essenssaal zum Mittelpunkt des Geschehens. Heizen wurde jetzt ein Thema und die Frage, wie man diesem eigenwilligen Bau mit der Aura des des Pallast der Republik ohne viel Geld nutzbar machen kann. Und noch gibt es ja auch keine anderen Orte auf der »Insel«, die bei schlechtem Wetter zum Verweilen einladen. Der Herbst wurde daher, anfänglich ungeplant, die Zeit des Finnhauses. Mit Hilfe von Klaus Franke u.a. konnten wir eine Fassade sanieren. Denis Köch legte den Anfang für eine Teeküche, damit Gäste zukünftig im Finnhaus Getränke bereiten können ohne die Großküche betreten zu müssen. Kurz vor Weihnachten dann der Einbau eines Schornsteins und mit dem großen Kaminofen der ersten Heizung auf der »Insel«, die nicht auf Strom angewiesen ist. Im Obergeschoss gibt es jetzt einen Seminarraum, einen Bandraum, ein Dachschlafzimmer für zwei und mehr Personen, eine DDR-Lounge und einen DDR-Laden, der die Überbleibsel vom Benfizmarkt am 7. Dezember präsentiert. Der Spätherbst war ferner von ungefähr fünf Entwicklungen geprägt.

Zum einen von der erwähnten Veranstaltung am 7.12. Mehr als hundert Menschen haben uns ihre Aufwartung gemacht, angetrieben sicher vom Wunsch, sich ein Stück DDR-Vergangenheit nach Hause zu holen und Sammlungen zu komplettieren oder gar DDR-Retro-Gaststätten zu eröffnen, aber auch von der Neugier, was in Schlowe grad so Neues entsteht. Das war schon schön. Und schön war auch, dass es uns gelungen ist, der Veranstaltung nicht nur einen nostalgischen Touch zu geben, sondern in die Vergangsheits- auch ein Stück Zukunftsbewältigung einfließen zu lassen. Schließlich ist die »Insel«, neben vielem Anderen, auch ein politisches Projekt in unruhigen politischen Zeiten. Mit den Akkordarbeitern und dem Film Gundermann« konnten wir musikalisch und filmisch zeigen wie wir feiern und welche Kultur wir in die Region künftig einbringen wollen.

Zum zweiten kommen wir mit der Erarbeitung und Einreichung des Bauantrags für Betriebsleiterwohnhaus und Textilwerkstatt auch einer Konsolidierung unseres eigenen Lebens (z.B. durch eine Badewanne und eine eigene Küche!) ein Stück entgegen. Neben vielen anderen Freund- und Bekanntschaften die wir geschlossen haben, waren es Andrea Klein und Thomas Wagner, die uns in diesem Prozess als freundschaftlich verbundene und gleichzeitig professionelle Bauplanerin und Bauplaner sehr zuverlässig und tatkräftig zur Seite gestanden haben und weiter stehen. Dank ihrer Hilfe und ihren Kontakten konnten wir sogar die komplette Sanierung des Geländes schon bauplanewrisch angehen. Genauso wichtig wie die praktische Hilfe waren uns aber die Ermutigung und das Vertrauen in uns das von ihnen ausging und ausgeht. Vielen Dank dafür!

Drittens treibt uns natürlich die oft gestellte Frage, wie wir das denn alles schaffen wollen auch um. Woher das erforderliche Geld nehmen, wenn die Eigenmittel verbraucht sein werden? Auf die Frage gibt es bisher keine klare Antwort, aber die Erfahrung, dass es vor allem auf uns und unsere Energie ankommt. Ich weiß nicht, ob das schon zum Selbstoptimierungswahn unserer Gesellschaft gehört. Und man weiß ja nie, wann die Energie endet. Aber jetzt haben wir haben sie! Hilfreich ist dabei aber, dass wir hier in Mecklenburg noch nicht »geht nicht!« oder »vergisses!« gehört haben. Und auch wenn wir von den in dieser Förderperiode  nicht mehr vorhandenenen LEADER-Mittel (aus dem EU Fonds für die sozialkulturelle Infrastrkuktur des ländlichen Raums) vorerst nichts abbekommen werden, waren die Kontakte zur LAG Warnow-Elde-Land sehr angenehm und ermutigend. Die nächsten Pläne treiben uns um undschreien nach Umsetzung. Und solange man Vorhaben und Pläne hat, geht was voran!

Viertens: Dafür auch vielen Dank an Udo Rogmann, unseren liebenswürdigen Nachbarn und Ur-Schlowener, der uns Gartentrecker, Kettensäge, Holz und was nicht noch alles vermittelt hat. Ebenso vielen Dank an Johanna Herrmann, die mich begleitet und unterstützt hat, als ich den erwähnten Projektantrag vor dem regionalen LEADER-Kommitee vertreten musste und die immer wieder nach uns schaut. Vielen Dank auch an Klaus Franke, der schon erwähnt wurde und Lisa Scheffler Aber überhaupt: Vielen Dank an ununzählige Menschen, die uns hier in Mecklenburg so offen aufgenommen haben! Und das als Westberlinerin und Westberliner! Wir fühlen uns hier von Beginn an so was von zu Hause.

Fünftens habe ich zugebenermaßen im Sommer befürchtet, dass Schlowe von Berlin einfach zu weit weg ist und dass außer unserer großen Tochter Janna, die so unermüdlich oft den langen Weg von Jena nach Schlowe auf sich genommen hat um mit uns zu sein und uns zu helfen, niemand so richtig verfügbar sein könnte. Was kann und will der Verein leisten? Ist er mehr als eine organisatorische Hülle? Seit dem 3. Oktober, als wir uns beim Markttag in Rothen vorstellen durften und einen DDR-Stand gemacht haben, bin ich mir sicher, dass der JKBBS e.V. lebt und dabei sein wird. Markttag, Bandwochenende, Benefiz-Markt, Schlowester und alles was da kommt: Ohne Guido, Marie, Marius, Zouba, Alex, Patti, Clemens, Hilde, Thorsten und Heidrun wären diese Veranstaltungen nicht möglich gewesen. Und es ist einfach schön, euch hier zu haben! Steffen Wiechmann, Mecklenburger Falke, Mitgründer des Arbeiter*innenliederchors »Roter Hering« aus Rostock und Hauptamtlicher auf dem Falken-Zeltplatz in Berlin-Heiligensee ist noch nicht Mitglied im JKBBS e.V., aber sehr hilfs- und zigarettenpausenbereit und ein sehr guter Marktverkäufer, Berater und Freund. Marc Grund, ein christlicher Pfadfinder, Baumfäller und Feuerwehrmann vom VCP-Stamm »Weiße Rose« in Berlin-Mariendorf ist hier ebenso wie der Ur-Wismarer Enrico Heilmann vom Kinderring-Jugwendzentrum »Betonia« zu erwähnen! Auch euch danke für eure Unteratützung, Reparaturen, Erkundungen, Kanus und die guten gemeinsamen Zeiten!

Um es zusammenzufassen: Wir haben viel erlebt. Freuden- und Insuffizienzgefühle gehabt. Das wird auch so weitergehen. Vieles muss noch ausgefeilt, weiterwentwickelt und dazugelernt werden. Wir werden handwerklich weiter dazu lernen, sind aber auch auf ehrenamtliche und professionelle Handwerker*innen und Helfer*innen angewiesen. Wie binde. wir Menschen. ein? Wir werden weiterhin Vollverpflegung anbieten, wollen aber unser Speiseangebot verbreitern, nur für große Küchen kochen und ggf. lieber Honorare zahlen, als uns in der Küche ganztätig zu verzetteln. Wir müssen weiter entwickeln, wie wir uns künftig zwischen Marx und Markt bewegen, was es also heißt ein nichtkommerzielles Projekt ökonomisch abzusichern. Auf jeden Fall bleiben die ersten neun Monate aber prägend und prägnant. Offen bleibt, ob mit dem Jahreswechsel die »Insel« gezeugt, geboren oder bereits 9 Monate alt ist. Wahrscheinlich alles zusammen. Denn: »The Future is Unwritten«, wie die Autonomen sagen. Unverfügbar, würde mein Doktorvater Hartmut Rosa vermutlich umschreiben. Das ist sowohl beängstigend als auch erhebend! Lunga vita al processo!