Zwischen Markt und Marx: Gemeinnützigkeit in der Spätmoderne
Ein Kollege aus Berlin war im vergangenen Sommer auf der »Insel« zu Besuch, um als zahlender Gast ein paar Ferientage mit seiner Familie zu verbringen. Als ich ihm im Café Wahrheit ein paar Süßigkeiten und zwei Bier verkaufe, stellt er freundlich lächelnd fest, ich sei ja ein Kaufmann geworden. Ich fühle mich ein bisschen ertappt und erwidere, dass das Betreiben eines Zeltplatzes natürlich viel offenkundiger als die Lehrtätigkeit im Öffentlichen Dienst darauf angewiesen sei, in finanziellen Kategorien zu denken und zu handeln. Das gilt für den Zweckbetrieb mit den Übernachtungen aber natürlich auch für das Café. Unsere Preise sind zwar sehr moderat, aber die bariste und baristi freuen sich über hohen Umsatz und gute Margen. Wir haben seit dem Frühling eine Registrierkasse auf deren Display Produktnamen und Preise stehen und aus der sich am Ende des Verkaufsvorgangs bedruckte Bons herausschieben. Wie im Supermarkt. Das Finanzamt will das so. Der Kollege und Freund nickt verständnisvoll. Aber so wohlwollend wie er sind nicht alle. Es geistert in einer Berliner Szene das absurde und bösartige Gerücht, bei Vollverpflegung würden wir die Portionen aus der Küche absichtlich knapphalten, um den Gästen im Café das Taschengeld aus derselben zu ziehen. Ein Jugendlicher aus Süddeutschland bläst bei Google ins selbe Horn. Ist damit das Ferienlager »Insel«, wie manche argwöhnen, kein inhaltlicher Tendenz-, sondern ein merkantilistischer Kommerzbetrieb, um es tautologisch zu formulieren?
Nein! Wir haben eine Satzung, mit Zielen. Wir sind anerkanntermaßen gemeinwohlorientiert und daher steuerprivilegiert. Wir sind anerkannter freier Träger der Jugendhilfe. Wir verfolgen unsere Vereinszwe name="_ednref1" title="">[1] Wir alle, nicht nur die Kapitalist:innen, sind gezwungen, unsere wirtschaftlichen und persönlichen Interessen, notfalls egoistisch zu vertreten. (Auf die Aufopferung werde ich zurückkommen.)
Nun würde ich bestreiten, dass wir etwas tun, das moralisch verwerflich sei, aber auch die Akteure eines gemeinnützigen Ferienlagers denken und handeln ökonomisch. Nicht nur weil es um unser finanzielles Überleben geht. Wir müssen uns auch deshalb am kapitalistischen Steigerungsspiel beteiligen, weil wir ständig Geld brauchen, um das Angebot zu verbessern, das Gras besser mähen zu können, das Objekt schneller sanieren zu können, um den steigenden Anforderungen gerecht werden zu können. Und wir sind auch als Konsument:innen mit Ausstattungs- und Gestaltungswünschen Teil des Marktes. Wir müssen (und können!) uns daher über steigende Belegungszahlen freuen: In drei Jahren von 716, auf 1.879 (+161.7 %) auf 3.274 (+74.24 %) Übernachtungen im Jahr 2021 haben wir es geschafft. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch sorgen, über die Auslastung der nächsten Jahre und ob das Gesamtpaket aus real existierender baulicher Anlage, unseren bisherigen Gestaltungsversuchen, Seenähe, Landschaft und unserem Konzept Gefallen findet. Ob irgendetwas kaputtgeht und teuer repariert oder ersetzt werden muss. Und ob wir schon bekannt genug sind, um die zu erreichen, denen es hier gefallen kann und die uns mögen können. Wir müssen uns dabei eingestehen, dass das längst noch eine volatile Angelegenheit ist und uns, wie auch jede kommerzorientierte Unternehmerin Gedanken darüber machen müssen, wie und ob sich das konsolidiert. Oder ob wir eingekaufte Ware auch wieder verkaufen können. Im Grunde haben sehr viele unserer Gedanken und Sorgen (aber auch unserer Freuden) mit anstehenden Investitionen, mit erzielten, erhofften, entgangenen Einnahmen auch aus Fördermitteln, Spenden etc. und ihrer korrekten Abrechnung zu tun.
It's the economy, stupid. Marx analysiert das nüchtern und wertfrei, stellt aber fest, dass die von ihm in ihren Grundfesten kritisierte bürgerliche Gesellschaft dazu eine eigenartig ambivalente Erwartungshaltung einnimmt, die schon in obigen Zitat geklungen ist. Egoismus und Aufopferung. Trotz der gegebenen Konkurrenz und der daraus folgenden Entfremdung der Menschen untereinander sollen die Menschen nicht offen gierig sein, über Geld nicht sprechen und sich unbedingt moralisch verhalten. Sie sollen sich, Immanuel Kants Kategorischem Imperativ folgend, vor einer Handlung fragen, ob diese verallgemeinerbar für die gesamte Menschheit ist. Wäre es gut, wenn alles so handelten, wie ich zu handeln im Begriff bin? Sollten alle Menschen einander übervorteilen, lügen, ehebrechen etc.? Kant hofft, dass einer Übertäterin in spe bei dieser Überlegung klar wird, dass das natürlich nicht geht und darauf verzichtet, die intendierte Handlung auszuführen. Marx stellt nun an dieser Stelle Widersprüchlichkeiten fest und konstatiert, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft verschiedene Sphären gibt und, dass »jede Sphäre einen andren und entgegengesetzten Maßstab an mich legt, einen andren die Moral, einen andren die Nationalökonomie«[2]. In der Tat darf man in der wirtschaftlichen Sphäre genau das: Einen anderen Menschen zu den eigenen Gunsten übervorteilen, z.B. Menschen. für sich arbeiten lassen und den Profit behalten oder ihn zum Kauf einer Ware verleiten. Es wäre hier sogar töricht, das nicht zu tun. In der Familie, in der Kirche, in der öffentlichen Erziehung in der Pandemie oder im Verein andererseits soll man aber tugendhaft sein. Das ist einerseits plausibel und andererseits aufschlussreich! Egoismus und Eigennutz haben im Bereich der persönlichen Nahbeziehungen, in der öffentlichen Erziehung und im gemeinnützigen Verein iealerweise nichts verloren. Diese Bereiche sind der gesellschaftliche Kitt, der den Laden zusammenhält. Abgesehen davon, dass auch in der Sozialen Arbeit , im Gesundheitswesen und selbst in intimen Nahbeziehungen die neoliberale Ökonomisierung Einzug gehalten hat, wird in manchen Gesellschaftsbereichen, z.B. eben beim Ehrenamt umso rigoroser die Einhaltung moralischer Regeln eingefordert. Im Falle des Ehrenamts, dass manchen Kritikerinnen zufolge in der ökonomisierten Spätmoderne auch deswegen so gefeiert wird, weil es vormalige sozialstaatliche Aufgaben privatisieren hilft, ist z.B. erstaunlich selten von Spaß und Selbstbestimmung die Rede, sondern von Aufopferung, Amt und Ehre. Das Handeln in dieser Sphäre soll ehrenvoll, uneigennützig, moralisch integer sein, fast so als sei der Verein das gemeinnützige Feigenblättchen des Neoliberalismus. Daher wird eben das Ehrenamt und das Wirken im Verein misstrauisch beäugt, ob es wirklich altruistisch ist - oder sich nicht doch verkappter Egoismus hinter schönen Reden verbirgt. Die Steuerprivilegien gemeinnütziger Vereine werden deswegen alle drei Jahre vom Finanzamt (!) kritisch geprüft. Hier gilt also - und auch nicht grundlos- das Misstrauensprinzip. Schließlich leben wir ja in Ellenbogengesellschaft, in der jede jedem misstraut. So wird erklärlich, warum ein Café oder zukünftig der Konsum auf einem gemeinnützigen Zeltplatz für manche zumindest ein »Geschmäckle« haben. Das was bei Edeka oder Aldi (und lustigerweise auch bei Museums-Shops in der Kultur- und. Bildungssphäre) okay ist, nämlich Gewinn über den Verkauf von Waren zu erwirtschaften, wirkt in der altruistischen Sphäre der Gemeinnützigkeit für manche unangemessen kommerziell und damit fehlplatziert. Gesteigert werden kann diese Irritation dadurch, dass die engagierte konsumkritische Gruppenleiterin feststellt, dass ihre Gruppenkinder den dargebotenen Verlockungen erliegen und schon in den ersten Tagen unvernünftig viel Geld ausgeben oder sogar versuchen, eigene Beliebtheit durch Spendabilität zu steigern - von gesundheitlichen Bedenken gegenüber Süßigkeiten und alkoholischen Getränke noch garnicht zu reden.
Marx redet nun keineswegs der Askese das Wort und er ist, wie gesagt, fest der Ansicht, der Kapitalismus sei kein moralisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Insofern gibt es den im Titel insinuierten Widerspruch zwischen ihm und dem Markt eigentlich nicht, jedenfalls nicht unter kapitalistischen Bedingungen. Dennoch gibt Marx uns, wenn wir wollen, in diesem Zusammenhang auch Kritisches mit auf den Weg: Er sagt, dass wir, wenn wir etwas an jemanden verkaufen, sei es eine Gruppenunterkunft, eine Schokolade, ein Bier oder ein Merchandising-Artikel, z.B. ein T-Shirt mit Vereinslogo, uns Folgendes klarmachen sollten: »[J]edes Produkt ist ein Köder, womit man das Wesen des andern, sein Geld, an sich locken will, jedes wirkliche oder mögliche Bedürfnis ist eine Schwachheit, die die Fliege an die Leimstange heranführen wird.«[3] Das verändert, so Marx, unsere Einstellung zu den Dingen, die wir verticken. Es besteht die Gefahr, dass mir nichts mehr an ihnen liegt, außer für sie bare Münze zu erhalten. »Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das schönste Schauspiel; der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals; er hat keinen mineralogischen Sinn.«[4] Bedenklicher als die Entfremdung vom Produkt ist aber die lauernde Entfremdung von meinem Mitmenschen. Ich will nicht ihn und sie will nicht mich, sondern das Geld oder umgekehrt die Ware. Damit entsteht eine gegenseitige Instrumentalisierung, eine Dienstleistungsbeziehung, ein Krämerin-Kunden-Kontakt: »Die gesellschaftliche Beziehung, in der ich zu dir stehe, meine Arbeit für dein Bedürfnis ist daher auch ein bloßer Schein, und unsere wechselseitige Ergänzung ist ebenfalls ein bloßer Schein, dem die wechselseitige Plünderung zur Grundlage dient. Die Absicht der Plünderung, des Betrugs liegt notwendig im Hinterhalt, denn da unser Austausch ein eigennütziger ist, von deiner wie meiner Seite, da jeder Eigennutz den fremden zu überbieten sucht, so suchen wir uns notwendig zu betrügen.«[5]
Jetzt ist das vielleicht ein bisschen krass. Immerhin finden selbst im Neoliberalismus und auch in der Handelssphäre durchaus »echte« zwischenmenschliche Begegnungen statt. Ob im Supermarkt oder bei Ebay-Kleinanzeigen, die Menschen ziehen sich nicht permanent übern Tisch, sondern begegnen sich vielfach fair und freundlich - und ich meine jetzt nicht Freundlichkeit als Charaktermaske, also zum Schein. Aber Marx' Interesse am Diesseits war eben erkennbar begrenzt, weil er seiner Zeit eine umfassende Änderung der ökonomischen Spielregeln voraussagte. Uns heute bleibt ja hingegen nichts übrig, als in der desillusionierten Spätmoderne ein paar Hoffnungsfunken zu schlagen. Trotz aller Freundlichkeit besteht aber immer die Gefahr, dass das Ökonomische dominant bewusstseinsbildend und handlungsleitend wird. Die Gastgruppen, wenn sie uns als Dienstleistende und die »Insel« als zu konsumierende Ware betrachten können weder uns noch unser Lebenswerk (an)erkennen. Aber auch wir selbst müssen, und dann braucht es vielleicht doch ein bisschen Kant und den kategorischen Imperativ, darauf achten, die fragile Balance zu halten, zwischen Ökonomie und Gemeinnutz. Die Angewiesenheit auf Einnahmen sollte nicht zu Belegungen mit Menschen führen, die sich hier nicht wohlfühlen können und mit denen keine Aussicht auf Resonanz besteht. Wir müssen im Gegenteil auf Gastgruppen setzen (und tun das ja im Prinzip auch seit 2019 mit ein paar Ausfällen), die versprechen, durch ihre Zeit hier einen immateriellen Gewinn mit nach Hause zu nehmen und die immateriellen Gewinn, z.B. ihre Solidarität oder ihr Engagement auch hierherzutragen in der Lage sind. Im Café und im Konsum schaffen wir selbst zweifellos Kaufanreize. Aber auch wenn das Geldausgeben die meisten Probleme nicht lösen kann, sondern im Gegenteil potenziell selbst zu Problemen führt und überdies ein wirkmächtiger Sozialisationsagent ist, bereiten gekaufte Dinge auch Freude und sind im besten Falle nützlich, erhellend, kleidend, unterhaltsam. Und wir verkaufen keinen minderwertigen Mist. Zudem fließt etwaiger Gewinn nicht in private Kassen, sondern auf unser Vereinskonto und in den gemeinnützigen Betrieb. Vor allem aber nutzen wir die »Konsumsphäre« vor allem, um in Kontakt und ins Gespräch mit den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu kommen, die bei uns zu Gast sind. Wir füllen mit Freude Süßigkeitentüten, zehncentweise. Wir machen engagiert Latte, Cappuccino, Doppio, heiße Schokoladen und mixen Aperol Sprizz. Ab dem kommenden Sommer machen wir bestimmt jemandem mit einem Opinel Messer, einem Knatterboot oder einem guten Buch eine Freude. Aber wir respektieren auch voll, wenn Gruppenleiter ihren Kindern eine konsumtive Auszeit gönnen wollen. Und wir verstehen, dass das Bier für den Abend meist nicht bei uns gekauft wird, sondern im Supermarkt.
Was bleibt? Das wichtigste in unserer verrohten und individualisierten Zeit, sind positive, resonante Erfahrungen mit anderen Menschen, der unverzerrte Diskurs, sowie Erlebnisse in der analogen Welt. Wichtig in unserem Leben, ist die »Insel« Stück für Stück zu sich selbst kommen zu lassen und einen nichtkommerziellen Raum blasenübergreifend zur Verfügung zu stellen.
Let the sun shine in.
Ein unabgeschlossener Reflexionsprozess von Jens Mühe.
[1] Marx, Karl & Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. In: MEW 3. Berlin, 1969, S. 229
[2] Marx, Karl: Philosophisch-ökonomische Manuskripte. In: MEW Bd. 40, Berlin, 2012, S. 551.
[3] a.a.O., S. 548
[4] a.a.O., S. 542
[5] Marx, Karl: Auszüge aus James Mills Buch »Éléments d’economie politique«. a.a.O., S. 462