Glanz & Krawall den Hütten

»Das ist die Hölle!« Theaterprojekt mit Witziner und Berliner Jugendlichen auf der »Insel«

Sich im Jahr 2020 mit der Hölle auseinanderzusetzen ist nicht aus der Zeit gefallen. Scheint doch die die Menschheit blindlings aber zielstrebig gegen die Wand zu rennen. Wir kannibalisieren uns selbst und drohen die Erde mit uns in den Abgrund zu reißen: Der Klimawandel und die dadurch verursachten Buschbrände in Australien. Die gewaltige Anzahl von flüchtenden Menschen vor Krieg und Hunger. Die Erosion des Ideals einer aufgeklärten und dialektischen Rationalität, verkörpert von Personen wie Donald Trump als Anführer von Massenbewegungen, erkennbar ebenso an der stetig wachsenden Popularität hanebüchener Verschwörungstheorien und an eruptiven Ausbrüchen ungerichteter kollektiver Gewalt etc. pp. Und dann erst der Virus, der die Welt in eine neue, nie dagewesene Krise stürzt und letzte Sicherheiten darüber, wie menschliches Leben so funktioniert, radikal in Frage stellt. Zwar scheint es auch ein paar gute Strategien und Aspekte dieser Krise zu geben, aber anderorts sieht das ganz anders aus und während der Großteil der Bevölkerung die damit verbundenen Maßnahmen bereitwillig bis zähneknirschend akzeptiert und umsetzt, drehen andere am Zeiger und halten ihre Wissenschaftsfeindlichkeit tatsächlich für Mut, sich des eignen Verstands zu bedienen. Die unversöhnliche Spaltung vertieft sich und die Zahl der Demokratiefeinde wächst. Bis zur realen Hölle muss es da nicht mehr weit sein.

Angesichts des Ernsts der Lage, stellt sich natürlich die Frage, ob Theater, besonders Jugendtheater sich bei dem Versuch, in wenigen Tagen Dante Alighieris höllische Verhältnisse gedanklich, bühnenbildnerisch und darstellerisch auf heutige Verhältnisse zu übertragen nicht überfordert. Jeder denkende und fühlende Mensch versteht natürlich auch in einer gottlosen Zeit den Zusammenhang zwischen Sünde und psychischen Höllenqualen (und die Jugendlichen konnten in schriftlichen Reflexionen während der Stückerarbeitung eigene Schuld und Schuldgefühle sehr klar benennen) und weiß, dass fahrlässige oder mutwillige Fehler Konsequenzen haben. Wenn nicht für den Verursachenden selbst, dann aber in jedem Fall und auf lange Sicht für andere. Aber kann man das darstellen? Und auch, wenn sich manche von uns manchmal schämen können, fehlt es nicht oft und vielen (und möglicherweise in den entscheidenen Momenten) am selbstkritische Blick auf das eigene Vermögen und Unvermögen, auf die eigene Schuld? Haben wir, wenn's drauf ankommt, im Freud’schen Sinn, noch ein Über-Ich, dass dem Es wenigstens ansatzweise Paroli zu bieten vermag? Und war das je sehr verbreitet? Und leben wir nicht die meiste Zeit allem gesellschaftlichen Ungemach zum Trotz doch noch ziemlich vergnügt, einfach weil es sonst einfach zu viel würde? Überdies: Kann Theater, das auch unterhalten will (und soll), einen so tiefen Blick auf Hoffnungslosigkeit wagen und dann, weil die reine Kritik angesichts der Umstände eigentlich nur zur dystopischen und zuweilen wohligen Verzweiflung führt, mit der Negation der Negation aus dem Dystopischen ein utopischer Überschuss gewonnen werden?

Viermutlich konnte es gar nicht der Anspruch der Leute vom Berliner Musiktheater glanz&krawall sein, mit ihrer Produktion »Die 9 Datschen des Dante A.« solche Fragen aufs Tapet zu bringen. Schließlich steht bei theaterpädagogischen Angeboten längst nicht nur die inhaltliche oder gar die philosophische Seite der Stückentwicklung im Vordergrund. Aber wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, hat mir diese stärkere inhaltliche Zuspitzung auf den Originalstoff oder unsere heutige Vorhölle etwas gefehlt. 

Für uns war es nichtsdestoweniger eine sehr inspirierende Woche mit einem stimmungsvollen und gut ausgeleuchteten Abschluss! 15 sehr sympathische Jugendliche aus Berlin und Witzin (Simar Acar, Madeleine Behrendt, Johannes Kevin Döll, Mathilda Dreger, Paul Haeberlin, Franziska Hochbaum, Sebastian Hüller, Johanna Jankowitz, Lilly Knöchelmann, Anouk Lingk, Clara Piegler, Tabea Pittelkow, Julian Reimann, Hanna Seeliger und Elias Leonard Thurow) und 6 engagierte Theaterleute haben vom 11. bis 19. Juli auf unserer neugestalteten Zeltwiese übernachtet und die »Insel« belebt. Beobachtbar war ein himmlisches und sehr intrinsisches Gewusel: Theaterpädagogische Übungen, Reflexionen über die Sicht der Beteiligten auf die Hölle, Höllenmodelle aus Pappkarton als Visualisierung späterer Stationen, die kreative Umgestaltung maroder Hütten zu Spielstätten, Jugendliche die während ihrer Pausen ein Buch lesen oder ein Gesellschaftsspiel spielen, Abende im Café Wahrheit mit Gästen in Spendierlaune, interessante Gespräche über die Gepflogenheiten in der Stadt und auf dem Land und immer wieder spontane und geplante Musiksessions, mehrstimmige A-Capella-Gesänge und wunderbare Klavierklänge aus dem Finnhaus. (Die SVZ berichtete: https://www.svz.de/lokales/sternberg-bruel-warin/Jugendliche-bringen-Dan...)

Die Innwohnenden Sabine Reichhelm und Jens Mühe unterstützten den künstlerischen Prozess ehrenamtlich durch die Versorgung mit vegetarischem Essen und allen auf der »Insel« verfügbaren Materialien, technischen Einrichtungen, dem umfangreichen Musikequipment, der Bewirtung im Café Wahrheit und schlagzeugspielend.

Unterdessen entstanden 9 Höllenkreise, die von Kleingruppen in den verschiedensten Ecken des Geländes entwickelt wurden. Das Duschhaus kam dabei ebenso zum Einsatz, wie verschiedene wegen Baufälligkeit nicht mehr benutzbare Bungalows und der alte Spielplatz aus DDR-Zeiten. Wie Dante A. sollten die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Abendstunden des 18. Juli durch das Gelände und zu den 9 beleuchteten Exponaten wandeln können. Bei der Entwicklung der Szenen und Abläufe halfen Dramaturg Dennis Depta, Regisseurin Marielle Sterra, Theaterpädagogin Leonie Arnold, Produktionsleiterin Elena  Strempek. Bei der Gestaltung und Beleuchtung der Schauplätze wurden sie unterstützt von Bühnenbildnerin Raissa Kankelwitz. 

Am Tag der Aufführung wurden die Gäste zunächst von »Dantes Atzen« begrüßt, eine wenige Tage zuvor ins Leben gerufene und vor allem von Musiker Stefan Weyerer unterstützte und angeleitete Band mit einem sehr heterogenen und das Gesamtthema angelehnten Liedprogramm. Anschließend galt es bürokratische Hürden und behördliche Schikanen zu ertragen, um in die Hölle einreisen zu können. Und endlich wandelten 44 Gäste auf dem Höllenparcour und ließen sich unterhalten und inspirieren. Den Abschluss eines gelungenen Abends bildete eine von mindestens drei langen Partynächten in diesem Sommer.

Eins ist jedenfalls klar: Durch diese Ko-Operation zwischen glanz&krawall und dem JKBBS e.V., gefördert vom Bundesverband Freie Darstellende Künste, »Kultur macht stark«, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern, ist die »Insel« im Sommer 2020 sich selbst und ihren Anliegen wieder ein gutes Stück näher gekommen. To be continued!

Fotos: Erik Slivester Kaufmann, Claudia Ohse, Jens Mühe.